Wie geht Kapitalismus?

Frühe Erklärungsversuche von Turgot, Quesnay, Smith, Say, Ricardo u.a.

In seiner Einführung zu Turgots kleiner Schrift bemerkt der Herausgeber Heinrich Waentig zutreffend: „Wenn ich an meine akademischen Wanderjahre zurückdenke, so will mir die Vernachlässigung der eigentlich ‚theoretischen‘ Studien als eine der charakteristischen Eigentümlichkeiten unseres damaligen Lehrganges erscheinen. Das konstruktive Vorgehen der ‚Klassiker‘ auf vielfach lückenhafter Grundlage hatte die Späteren unbefriedigt gelassen, ihre kritiklose Vergötterung seitens der Epigonen reizte zum Widerspruch. Auch auf dem Gebiete der Volkswirtschaftslehre hielt die historische Betrachtung ihren Einzug und mit ihr jene Tatsachenfreudigkeit und das heiße Bestreben, um jeden Preis aus dem unversieglichen Borne der Wirklichkeit zu schöpfen. Welch kostbare Früchte diese Bewegung getragen, bedarf heute keines Beweises mehr. Nicht unbedenklich dagegen war es vielleicht, dass die Reform der Forschungsmethoden mittelbar auch auf den Unterricht hinüberwirkte. Tatsachen! wurde die Losung auch in den Seminaren, die statistische Tabelle, die ‚realistische‘ Schilderung unser Evangelium. Dagegen trat die theoretische Durchdringung des Stoffes, besonders auch das Studium der älteren Meister augenfällig zurück. Quesnay und Turgot, Hume und Smith, Malthus und Ricardo betrachtete man halb und halb als überwundene Größen. Der fortgesetzte Hinweis darauf, dass sie nicht die ganze Wahrheit gebracht, verdunkelte das Maß ihrer tatsächlichen Leistungen. Fast gehörte es zum guten Tone, ihre Werke nicht zu lesen, und nur selten wurde man dazu angehalten. Leichthin witzelten wir über den engen Horizont, die ‚abstrakten‘ Spekulationen der Briten. Und was bei einigen unserer um die Erweiterung nationalökonomischer Erkenntnis hochverdienten Lehrer eine verzeihliche Einseitigkeit war, bei uns Jüngeren artete es vielfach in verständnislose Überhebung aus.

Dass diese Abkehr ein didaktischer Fehler war, ist mir seither immer klarer geworden, besonders im Hinblick auf die nationalökonomische Erziehung des großen Durchschnitts. Denn was der Mehrzahl von denen, die heute über ökonomische Probleme reden und schreiben, nur zu häufig fehlt, das ist eine klare und einheitliche wirtschaftliche Weltanschauung, wenn nicht gar das Bewusstsein, dass man sich eine solche erwerben müsse, um sich in den Wirren widerstreitender Alltagsinteressen zurechtzufinden. Aus Furcht vor einer falschen Theorie langte man fast beim theoretischen Nihilismus an.“

Ob es unbedingt eine „einheitliche wirtschaftliche Weltanschauung“ sein muss, bleibt dahingestellt, aber die theoretische Durchdringung des Sachverhaltes ist eine Notwendigkeit, um die ökonomischen Bewegungsgesetze, deren man sich bedienen oder die man als schädlich beurteilt abschaffen will, zu verstehen. Da mag ein noch so hoher Berg von Fakten und Statistiken den Studierenden erschlagen, er kann immer nur der Auftakt für die Beschäftigung mit dem Inhalt des Studienobjektes, aber niemals der Ersatz für eine Erklärung sein.

Die bekannten Vertreter der Volkswirtschaftslehre aus Frankreich und England konnten im 18. Jahrhundert in ihren Forschungen schon auf eine lange Tradition einer kapitalistischen Entwicklung zurückschauen. Den unbefangenen Leser mag es erstaunen, wie die modernen Gesetze der Marktwirtschaft in fast allen Ausformungen schon vor über 250 Jahren an der Tagesordnung waren. Und diese Gesetze der Marktwirtschaft waren Gegenstand der Untersuchungen der damaligen Volkswirtschaftler. Sie versuchten den Ursprung des kapitalistischen Reichtums herauszufinden. Dass letztlich die Arbeit einen gehörigen Anteil an der Reichtumsproduktion hatte, blieb den Ökonomen nicht verborgen.

Begleitet war die ökonomische Entwicklung von einer entsprechenden politischen. Unter dem Mantel der Feudalherrschaft und zu deren Nutzen wurde die kapitalistische Reichtumsproduktion in den Zentren der damals vorherrschenden Staaten, Frankreich und England, gefördert. Die Suche nach Absatzmärkten, Kapitalstandorten und Rohstoffen ließ eine kriegerische Konkurrenz – vor allem zwischen den o. g. Staaten [1] – entstehen, in die ganz Europa mit einbezogen war.

Im 19. Jahrhundert war die Beschäftigung mit den Erklärungsversuchen zum Kapitalismus noch en vogue. Vor allen Karl Marx hat in seinen „Theorien über den Mehrwert“ (MEW Bd. 26.1 bis 3) die Gedanken zur Mehrwertproduktion der alten Meister einer genauen Betrachtung unterzogen. Seine besondere Wertschätzung galt hier Francois Quesnay, der mit der Übertragung der Funktion des menschlichen Blutkreislaufes auf den Wirtschaftskreislauf ein anschauliches Bild von den ökonomischen Zusammenhängen in der kapitalistischen Gesellschaft geboten hat.

Allerdings bestimmte Marx die Bedeutung der Arbeit auf die Reichtumsproduktion genauer als die alten Klassiker. Er fand heraus, dass nicht die Arbeit, sondern die Arbeitskraft in ihrer ganzen Abstraktheit die Quelle des Mehrwertes sei. Was vielleicht sophistisch anmutet hat Konsequenzen, die zum Sprengstoff innerhalb einer Gesellschaft führen können. Denn mit dem Kauf der Arbeitskraft erwirbt der Kapitalist die Verfügungsgewalt über den Arbeiter. Er gestaltet die Arbeitsbedingungen in seinem Betrieb so, dass das Verhältnis von Arbeitszeit, deren Gegenwert der Reproduktion des Arbeiters und seiner Familie dient, immer mehr zugunsten von Arbeitszeit ausschlägt, die das Profitinteresse des Kapitalisten bedient. So entsteht ein Gegensatz zwischen den Interessen des Arbeiters und des Unternehmers, der unüberbrückbar ist. Dieses Ausbeutungsverhältnis, wie es damalige Sozialisten nannten, ist ein Grund für eine „Klasse“ in der Gesellschaft, sich von einem System zu befreien, das ihr zwangsläufig und periodisch eine unsichere Existenz, finanzielle Notlagen und Bedrohung ihres Lebens beschert.

[1]Auch weniger mächtige Staaten wie Preußen und Österreich-Ungarn sprangen auf diesen Zug auf. Hierzu ist die Lektüre von Julian Borchardts „Deutsche Geschichte“, Band I und II zu empfehlen. (erhältlich bei Amazon)

Links zu den Werken von Malthus, Mill und Sismondi

Karl Marx: Theorien über den Mehrwert (Links)

David Ricardo: Die Grundsätze der politischen Ökonomie oder der Staatswirtschaft und der Besteuerung.

Jean-Baptiste Say: Katechismus der National-Ökonomie

Adam Smith: Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Volkswohlstandes. Band I(1930)

Adam Smith: Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Volkswohlstandes. Band II

Adam Smith: Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Volkswohlstandes. Band III

Adam Smith: Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Volkswohlstandes. Band IV

Anna Robert Jacques Turgot: Betrachtungen über die Bildung und die Verteilung des Reichtums

François Quesnay: Allgemeine Grundsätze der wirtschaftlichen Regierung eines ackerbautreibenden Reiches

Pertti Honkanen: Marx’ ökonomische Schriften und die Entwicklung der mathematischen Methoden in den ökonomischen Wissenschaften

trend onlinezeitung: Das Tableau économique von Francois Quesnay