Sozialdemokratie und bürgerlicher Staat
Bildnachweis: Friedrich Ebert Stiftung: Sozialdemokratie 1914
Am 25. Juli 1914, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, verkündete der Pateivorstand der deutschen Sozialdemokraten: „Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!“
Nur zehn Tage später stimmte die Reichstagsfraktion der SPD den Kriegsanleihen zu und ermöglichte so dem Kaiserreich die Führung eines Krieges, wie die Welt ihn bis dahin noch nicht gesehen hat.
Die Zustimmung der Fraktion war mit 78 gegen 14 Stimmen überwältigend. Die Begründung für diesen scheinbaren Gesinnungswandel kam vom SPD-Vorsitzenden Hugo Haase. Er klagte einerseits Imperialismus und Wettrüsten als Ursache für den Krieg an, aber betonte andererseits, dass ein „blutrünstiger russischer Despotismus“ das „Recht eines Volkes auf nationale Selbstständigkeit und Selbstverteidigung“ bedrohe.
Erklärung der Sozialdemokratischen Partei zum Kriegsausbruch, abgegeben vom Fraktionsvorsitzenden Hugo Haase im Reichstag:
„Im Auftrage meiner Fraktion habe ich folgende Erklärung abzugeben.
Wir stehen vor einer Schicksalsstunde. Die Folgen der imperialistischen Politik, durch die eine Ära des Wettrüstens herbeigeführt wurde und die Gegensätze unter den Völkern sich verschärften, sind wie eine Sturmflut über Europa hereingebrochen. Die Verantwortung hierfür fällt den Trägern dieser Politik zu, wir lehnen sie ab. Die Sozialdemokratie hat diese verhängnisvolle Entwicklung mit allen Kräften bekämpft, und noch bis in die letzten Stunden hinein hat sie durch machtvolle Kundgebungen in allen Ländern, namentlich in innigem Einvernehmen mit den französischen Brüdern, für die Aufrechterhaltung des Friedens gewirkt. Ihre Anstrengungen sind vergeblich gewesen.
Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. Nun haben wir zu denken an die Millionen Volksgenossen, die ohne ihre Schuld in dieses Verhängnis hineingerissen sind. Sie werden von den Verheerungen des Krieges am schwersten getroffen. Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei. Wir denken auch an die Mütter, die ihre Söhne hergeben müssen, an die Frauen und die Kinder, die ihres Ernährers beraubt sind, und denen zu der Angst um ihre Lieben die Schrecken des Hungers drohen. Zu diesen werden sich bald Zehntausende verwundeter und verstümmelter Kämpfer gesellen. Ihnen allen beizustehen, ihr Schicksal zu erleichtern, die unermessliche Not zu lindern, erachten wir als eine zwingende Pflicht.
Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen. Wir fordern, dass dem Kriege, sobald das Ziel der Sicherung erreicht ist, und die Gegner zum Frieden geneigt sind, ein Ende gemacht wird durch einen Frieden, der die Freundschaft mit den Nachbarvölkern ermöglicht. Wir fordern dies nicht nur im Interesse der von uns stets verfochtenen internationalen Solidarität, sondern auch im Interesse des deutschen Volkes. Wir hoffen, dass die grausame Schule der Kriegsleiden in neuen Millionen den Abscheu vor dem Kriege wecken und sie für das Ideal des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen wird.
Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite.
Quelle: Erklärung der Sozialdemokratischen Partei zum Kriegsausbruch abgegeben vom Fraktionsvorsitzenden Haase im Reichstag (4. August 1914), aus Verhandlungen des Reichstags, XIII. LP., II. Sess., 1914, Bd. 306, S. 8 f.
Abgedruckt in Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. 2 Bände. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 1961, Bd. 2, S. 456-457.
Diese zwiespältige Haltung hatte ihren Grund in einem deterministischen Geschichtsbild der damaligen Sozialisten. Kurz zusammengefasst ging man von einem sog. „Urkommunismus“ in einer vorstaatlichen Gesellschaft aus, in der die Beschaffung von Gebrauchsgütern und Nahrungsmittel der Zweck gesellschaftlichen Handelns war. Mit der Herausbildung des „Eigentums“ spaltete sich die Gesellschaft in Besitzende und Herrschende auf der einen Seite und Arbeitende auf der anderen Seite. Die „Klassen“ und somit der Klassenkampf waren geboren. Im Zeitalter der Industrialisierung spitze sich der Klassenkampf zu. Die eigentumslose Bevölkerung nehme immer weiter zu und sei dazu berufen, der absoluten Minderheit von Monopolkapitalisten, die nichts mehr zum gesellschaftlichen Fortschritt beitragen und sich auf ihren konkurrenzlosen Profiten ausruhen, den Garaus zu bereiten.
Nun entdeckten die Sozialdemokraten, dass zwar die Zeit für eine sozialistische Umgestaltung reif sei, aber im Jahre 1914 die Gefahr eines Rückfalls in vorbürgerliche Zeiten drohe, denn der despotische russische Zarismus stand vor der Haustür. Und wie schon fast hundert Jahre zuvor das Proletariat zusammen mit der Bourgeoisie dem Feudalismus ein Ende bereitete, so musste nun das fortschrittlichere bürgerliche Staatswesen mit seinem Parlament, das sogar Sozialdemokraten akzeptierte, gegen die Barbaren aus dem Osten verteidigt werden. Die Vaterlandsverteidigung ergab sich so aus einer geschichtlichen Notwendigkeit, der das Proletariat und seine Vorhut nicht entfleuchen konnte.
Es gab damals auch eine linke Kritik an der neu entdeckten Vaterlandsliebe der Sozialisten. Sie wurde innerhalb der SPD geäußert und erklärte die Zustimmung zu den Kriegsanleihen als Verrat an den hehren Zielen der Sozialdemokratie.
In den Niederlanden entwickelte sich eine linke Strömung der Sozialdemokratie unter dem Dichter Herman Gorter und dem Astronomen Anton Pannekoek, die nach dem Krieg das Konzept des Rätekommunismus gegen die leninistische und stalinistische Ausbeutung und Unterdrückung der sowjetischen Arbeiterklasse setzte. Auch sie waren vehemente Gegner einer Beteiligung am Kriege, auf welcher Seite auch immer. Für sie war der Krieg ein Krieg zwischen Imperialisten, in dem die Arbeiterklasse lediglich als Opfer seinen Platz hat.
Interessant ist hier die Position der Rätekommunisten zur Kriegsteilnahme der Sozialdemokraten. Sie kritisieren nicht die Begründung der Sozialdemokraten, sondern bezweifeln ihre Berechtigung. Herman Gorter schreibt:
„Ihr sagt: Aber unsere Nationalität wird zugrunde gehen, wenn Russland nicht zurückgeschlagen wird.
Denn Russland ist ein barbarisch-despotisches Land, und sein Sieg bedeutet ein Erobern, ein Zurückdrängen unsres Vaterlands in die Barbarei.
Wir antworten, wie wir bereits sagten: dieser Grund galt, als Russland ein asiatisches Land war.
Jetzt gilt er nicht mehr.
Jetzt ist, – dank dem Heldenmut des russischen Proletariats – Russland kein asiatisches Land mehr, sondern auf dem Wege der westeuropäischen Entwicklung.
Es hat ein Parlament. Seine Landwirtschaft hebt sich unter dem Einfluss der Nachwirkung der Revolution.“
Herman Gorter: Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie. (Übersetzung aus dem Holländischen) Futurus – Verlag / München 1919, S. 33f.
Über 100 Jahre sind vergangen, imperialistische Kriege gab und gibt es immer noch, weil die Ursachen nicht beseitigt sind. Weitgehend alle Staaten der Welt haben in der marktwirtschaftlichen Ordnung ihr Mittel zur Reichtumsvermehrung gefunden. Sie beanspruchen über ihre Grenzen hinweg den Zugriff auf Rohstoffe und menschliche Ressourcen ihrer Nachbarn, sehen in den auswärtigen Bedingungen gute Investitionsmöglichkeiten ihres Kapitals. Dass es unter solchen Verhältnissen nicht immer friedlich zugeht, dass der Weg von unabweisbaren Ansprüchen bis zur gewaltsamen Durchsetzung nicht weit ist, darf nicht verwundern.
Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, als sei eine fehlerhafte theoretische Analyse der Grund für das Handeln der Sozialdemokratie vor 100 Jahren. Es war die Leistung der Propagandaabteilung der Sozialdemokratie, die Unterwerfung unter die damaligen Staatsnotwendigkeiten als fortschrittliche Tat von überzeugten Sozialisten, die im historischen Auftrag unterwegs waren, zu verkaufen. Der wahre Grund für den von Gegnern als Verrat verteufelten Staatsgläubigkeit ist die grundsätzliche Überzeugung, der bürgerliche Staat sei
das Mittel der Sozialdemokraten, eine gesellschaftliche Umgestaltung in ihrem Sinne vorzunehmen.
Nach dem Krieg, nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches bot sich den Sozialdemokraten in Deutschland und Österreich die Möglichkeit, staatliche Leitungsfunktionen zu übernehmen. Wie sie dachten, diese mit ihren Vorstellungen von sozialistischer Politik zu füllen, zeigen im Folgenden die Texte von Otto Bauer
[1]„Der Weg zum Sozialismus“ und Otto Neurath
[2]„Vollsozialisierung“. Nicht unumstritten war innerhalb der Sozialdemokratie die Unterwerfung unter die Staatsnotwendigkeiten, wie der Aufsatz von Max Adler
[3]„Der Arbeiter und sein Vaterland“ von 1929 zeigt.
[1] Otto Bauer (1881 – 1938) war ein österreichischer Politiker der SDAP. In der Nachkriegszeit war er 1919 für drei Monate Außenminister unter Karl Renner und arbeitet in der Führung der Partei. Bauer zählte zu den Begründern des Austromarxismus.
[2] Otto Neurath (1882 – 1945) war ein deutsch-österreichischer Wirtschaftswissenschaftler. Er engagierte sich in der bayerischen Räterepublik und versuchte als Präsident des Zentralwirtschaftsamtes die geldlose Wirtschaft einzurichten. Er zählt ebenfalls zu den Austromarxisten.
[3]Max Adler (1873 – 1937) war Jurist und Theoretiker des Austromarxismus. In Bezug auf den bürgerlichen Staat vertrat Adler eine radikale Position. Eine sozialistische Gesellschaft könne erst mit der Aufhebung der Klassengegensätze errichtet werden. Die Teilnahme an bürgerlichen Regierungen dürfe nur befürwortet werden, wenn sie sich auf Maßnahmen zur Verbesserungen der Lebenslage der Arbeiterklasse beschränke.